Friedrich a Heidemarie Neuhold: Erinnerungen an Mary Duras, 2014
Als ich meine Frau Heidemarie 1963 kennen lernte – damals hatte ich als junger Architekt gerade mein eigenes Büro in Graz gestartet – hatte ich keine Ahnung, dass sie eine Großnichte der bekannten Bildhauerin Mary Duras war, welche ich in ihren letzten Lebens- und Arbeitsjahren würde begleiten dürfen.
Zu meiner ersten Begegnung mit Mary Duras und ihrem Ehemann Arnold Schück kam es im Jahr 1963 in Wien, wobei ich bald von der sprühenden Lebensfreude des, gerade eine aufregende und lebensgefährliche Flucht aus der CSSR hinter sich habenden Ehepaares sehr beeindruckt war. Diese Begegnung sollte für mich der Anfang einer interessanten Beziehung mit einer in jeder Beziehung außergewöhnlichen Frau gewesen sein.
Als nämlich Mary Duras 1974 aus Hamburg nach Graz übersiedelt war, erfuhr ich in vielen Gesprächen nach und nach Einzelheiten aus ihrem spannenden Leben und konnte mir daraus ein Bild von ihrer Persönlichkeit machen. Manches ist mir im Gedächtnis geblieben, Einiges konnte ich mir aus ihrem Briefverkehr mit ihren Freunden wieder in Erinnerung rufen, Vieles ist leider verloren gegangen. Ihre Kontaktfreudigkeit und ihr Fundus an Freundschaften im Laufe ihres Lebens – mit zum Teil sehr bekannte Persönlichkeiten – war beeindruckend. Im Nachhinein tut es mir leid, ihre Erzählungen nicht auf Tonband mitgeschnitten zu haben, die Zeit und Geduld solches zu tun hatte ich damals leider nicht.
Im Sommer 1965 besuchte uns Mary aus Anlass unserer Hochzeit in Graz, wobei sie auch erste Kontakte mit dem, sie später in Graz sehr unterstützenden Professor an der Technischen Hochschule, Architekt Karl Raimund Lorenz knüpfen konnte. Dieser verfasste dann auch die Einleitung zum Katalog anlässlich der Jubiläumsausstellung zum 80. Geburtstag von Mary Duras 1978 in der Galerie Moser in Graz, welche von mir zusammen mit Architektin Edda Gellner initiiert und organisiert worden war.
Aber der Reihe nach: Die beiden - Arnold Schück und Mary Schück-Duras – hatten im Alter von über sechzig Jahren all ihr Hab und Gut in Prag zurückgelassen und sich die persönliche Freiheit im wahrsten Sinn des Wortes damit „teuer“ erkauft. Wie gefährlich und wie teuer habe ich erst Jahrzehnte später, bei der Bearbeitung und Herausgabe der Memoiren Arnold Schücks wirklich begriffen.
1964 endete besagte Flucht aus der kommunistischen Diktatur der CSSR mit einem Daueraufenthalt in Hamburg, wo Mary sofort fleißig zu arbeiten begann (Arnold: „Sie arbeitet wie eine Wilde! Es ist erstaunlich, was das Frauenzimmer mit ihren zweimal 33 Jahren leistet!“), offenbar um die beiden „verlorenen“ Jahre ihrer Flucht aufzuholen und neue Werke für eine Ausstellung zu schaffen, da fast ihr gesamtes künstlerisches Werk in Prag zurückgeblieben war. So weit es ihre damals schon etwas angeschlagene Gesundheit und ihre Sorge um Arnold (bereits 3 Herzinfarkte, schwere Lungenentzündung) zuließ, stand sie täglich im Atelier.
Es galt für sie – jetzt erst recht! – das, was sie Jahre vorher – noch in Prag – an meine Schwiegermutter schreibt: „...Nun, alt ist man geworden, aber innerlich fühle ich mich noch gar nicht alt und habe noch viele Pläne und Arbeit in meiner Kunst. Allerdings weiß ich nicht, ob ich es erlebe – aber ich möchte so gerne noch in wirklicher Ruhe etwas schaffen – weil schließlich liegt es in der Natur des Künstlers, dass er nie mit dem, was er gemacht hat, zufrieden ist und somit eigentlich immer am Anfang seiner Kunst steht. Das Alter spielt hier keine Rolle. Man steht ständig am Anfang.“
Und dieser „Anfang“ war natürlich nicht leicht: Beginnend von der Beschaffung der nötigen Materialien und Werkzeuge, schreibt sie darüber an ihre Freundin, die Malerin Marie-Louise von Motesiczky (1906–1996): „Ich habe vor dem Anfang eine schreckliche Angst und es ist mir bewusst, dass es eine Zeit dauern wird, bevor ich wirklich wieder etwas anständiges mache. Irgendwie ändert man sich ja ständig. Nenne es entwickeln; ob es ein Hinauf oder Herunter ist, das bleibt der Nachwelt überlassen zu beurteilen. Man selbst glaubt ja oder hofft wenigstens immer ein Stück weiterzukommen, denn wenn dieser Glaube nicht wäre, dann müsste man ja aufhören zu arbeiten.“ Dann aber doch wieder die Positive Sicht der Situation: „Weißt Du, oft ist mir alles wie ein Traum, dass wir wirklich frei leben, dass man aus dieser Hölle doch noch so gut herausgekommen ist und sich hier in Hamburg alles so zum Guten gewendet hat. Es wäre eine Schande, wenn ich jetzt nicht doch noch eine wirklich anständige Plastik machen würde, aber ein bissl Zeit werde ich dazu brauchen.“
Und einige Monate später wieder ihre Selbstzweifel: „Ich habe schon angefangen zu arbeiten, aber nach so langer Pause ist es natürlich noch nicht das Richtige. Komisch, wie man sich schwer wieder konzentrieren kann, ich meine jene Konzentration, die zur künstlerischen Arbeit unbedingt nötig ist. Wenn ich einen Bach oder Mozart höre, bin ich viel schneller konzentriert, als wenn ich mit einem Klumpen Ton im Atelier stehe. Da ich ja nur stehend arbeiten kann, werde ich leider viel zu schnell müde. Mit einer Ausstellung lasse ich mir bis zu meinem 70. Geburtstag Zeit.“
Daneben knüpfen beide ein Netz von Bekanntschaften, empfangen Besuche und bauen sich einen neuen Freundeskreis auf, suchen Kontakt zu Künstlerkollegen und -vereinigungen und Mary erhält sogar 1969 durch Vermittlung von Prof. Seitz von der freien Hansestadt Hamburg den Auftrag eine lebensgroße Bronzeplastik für den Eingangsbereich der Fritz Köhne-Schule zu gestalten.
Aber sie interessiert sich auch für die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst, fährt 1966 zur Biennale nach Venedig, besucht zweimal die Dokumenta in Kassel und alle nur möglichen Ausstellungen, die sie erreichen kann. Sie bildet sich ihr Urteil unter anderen über Henry Moore, Hans Arp, Marino Marini, Josef Hegenbarth, Wilhelm Thöny und deren – wie sie es bezeichnet – „Epigonen“.
Und sie schwärmt natürlich immer wieder von ihren drei Lieblingsmuseen, dem Akropolis-Museum in Athen, dem British Museum in London, und dem Pergamonmuseum in Berlin. Sie selbst bleibt in ihrer Arbeit „...so, wie es mir seit vierzig Jahren als Kunst vorschwebt und was ich bisher nicht erreicht habe.“
Während Mary an ihren Figuren arbeitete, organisierte Arnold eine Personalausstellung in der Ostdeutschen Galerie in Regensburg, die dann von August bis September 1973 stattfand. Er war sozusagen Mary's „Manager“. Welch außergewöhnlicher Mensch und Ehegatte er war, wurde mir leider erst lange nach seinem Tod durch die Befassung mit seiner, in Hamburg verfassten, 2012 herausgebrachten Lebensgeschichte bewusst. In der Ostdeutschen Galerie waren in erster Linie Werke aus der Hamburger Zeit aber auch zumindest Großfotos einiger wichtiger Arbeiten aus früheren Perioden ausgestellt. Diese Ausstellung wurde anschließend auch im Haus des deutschen Ostens in Düsseldorf gezeigt.
Ein schwerer Schlag für Mary beendet die verhältnismäßig ruhige Zeit in Hamburg, als Arnold Schück im Februar 1974 stirbt. Seine Leiden und drei Herzinfarkte infolge der unmenschlichen Behandlung vor und in Auschwitz haben sein Leben all zu früh beendet. Diesen Verlust hat sie bis zu ihrem Lebensende nie gänzlich überwunden. Mary Duras unterbricht ihre bildhauerische Tätigkeit und widmet sich der Trauerarbeit in Form einer Serie großteils lavierter Tuschzeichnungen von Trauernden. In dieser Periode der Trauer entschließt sie sich, ihre Zelte in Hamburg abzubrechen und zu den einzigen, ihr noch verbliebenen Verwandten - meiner Schwiegermutter in Graz und deren Bruder in Linz - nach Österreich zu ziehen. Mary entscheidet sich letzten Endes für Graz, jene musische Landeshauptstadt der Steiermark, in der sie dann noch viele Werke schaffen sollte.
Es folgen intensive Kontakte per Telefon und Post, denn es ging jetzt darum, in Graz eine, als Wohnung und Atelier passende Bleibe zu finden. Es gelang uns, auf einer Anhöhe am östlichen Grazer Stadtrand mit prächtigem Ausblick nach Süden eine zweigeschossige Villa ausfindig zu machen, die einer netten älteren Dame gehörte, welche nach dem Tod ihres Mannes und Weggang ihres Sohnes allein hier lebte. Sie gab sofort ihre Zusage einen Teil des Obergeschosses zu vermieten: Um eine geräumige offene Halle mit Stiegenaufgang gruppierten sich ein Schlafraum, eine Küche und zwei weitere, nach Süden und Westen ausgerichteten Räume, groß genug und gut belichtet für ein Atelier und einen anschließenden Wohnraum. Nachdem auch das Problem gelöst war, welche Möbel von Hamburg nach Graz mitgenommen werden könnten und sich herausstellte, dass alles, was Mary lieb und teuer geworden war, in dieser Wohnung unterzubringen war, war die Freude groß. Außerdem stand noch ein hölzerner Schuppen zur Verfügung, in welchem die, großteils in Kisten verpackten Gipsoriginale recht gut zu lagern waren.
Damit waren also alle wichtigen Voraussetzungen gegeben, dass Mary mit Sack und Pack im Juli 1974 in Graz Quartier beziehen konnte. Es war sicher schon der mindestens zehnte Neuanfang ihres Lebens.
Durch meine persönlichen Kontakte zur einheimischen Künstlerszene war es bald möglich, einen Bildhauer und Lehrer an der Höheren Technischen Lehranstalt für bildende Kunst – Siegfried Croce – zu finden, welcher sich in Folge sehr darum bemühte, ihr für alle notwendigen Nebenleistungen wie Beschaffung von Modellen, Arbeitsmaterialien, Anfertigung von Gerüsten für den Aufbau der Plastiken und Guss der Gipsoriginale mit Rat und Tat behilflich zu sein.
Mary begann vorerst mit einer Reihe von Zeichnungen nach Modellen sowie kleineren plastischen Versuchen, da sie Zeit brauchte um sich in der, wieder einmal neuen Situation zu orientieren und die Gedanken wieder auf ihre Arbeit auszurichten. Sie sprach mit mir zwar über alles Mögliche, aber wenig über die, wohl in ihr reifenden Plänen in Bezug auf ihre Arbeit. Meist standen wirtschaftliche Entscheidungen im Mittelpunkt. Was sie – aus welchen Gründen auch immer – peinlich vermied, sich bei ihrer Arbeit zusehen zu lassen. Obwohl es mich sehr interessiert hätte, musste ich dafür Verständnis aufbringen.
Sie sieht es immer noch als Zeitvergeudung an, nicht zu arbeiten und als sie sich seelisch und körperlich dazu in der Lage sah, entschloss sie sich ihren Traum von einem Doppelrelief doch noch zu erfüllen. 1928 hatte sie als Wettbewerbsentwurf für einen Brunnen vor dem neuen Prager Parlamentsgebäude erstmals eine Gruppe von zwölf/dreizehn überlebensgroßen Frauenfiguren entwickelt. Leider wurde dieser Entwurf nicht realisiert. Insbesondere die Idee Doppelrelief war etwas, in dieser Form noch kaum Dagewesenes, die Figuren sind von beiden Seiten her nur in der Tiefe eines üblichen Reliefs gearbeitet aber so zusammen gefügt, dass jede Seite für sich plastische Wirkung erreicht. Besonders raffiniert: von einer Seite waren es 12, von der anderen 13 Figuren!
Immer wieder einmal in den dazwischen liegenden fast fünf Jahrzehnten entstanden Skizzen dieser Idee in verschiedenen Maßstäben, zu einer Konkretisierung war es jedoch nie gekommen. Im Jahre 1963 hatte sie eine Woche vor ihrer Abreise in die Freiheit nochmals das etwas überarbeitete Doppelrelief bei einem Wettbewerb für einen Brunnen eingereicht.
Auch jetzt war der Weg vom Wunsch bis zur Umsetzung ein sehr mühevoller, denn allein die körperliche Anstrengung eine solche Gruppe von Figuren einzeln zu gestalten und sie dann ineinander zu passen ist nicht nur für eine Fünfundsiebzigjährige eine Herausforderung. Aber nichts desto trotz beginnt sie vorerst mit Zeichnungen im Maßstab 1:1 sowie einer Probefigur und arbeitet dann bis knapp vor ihrem 80ten Geburtstag mit Konsequenz und Begeisterung: Es entstanden sechs bzw. sieben Frauen. Der Zenit ihrer künstlerischen Lebensarbeit! Dann war sie mit ihren Kräften am Ende.
Bei ihrer Geburtstags-Ausstellung 1978 in der Grazer Galerie Moser war dieses Werk selbstverständlich der Mittelpunkt. Leider hat sie es nicht mehr erlebt, dass ihre Brunnenfiguren 1983 am zentralen Platz der Grazer Umlandgemeinde Feldkirchen zwischen Marktgemeindeamt und Schulgebäude in einem Wasserbecken, wie von der Künstlerin vorgesehen, aufgestellt wurden und heute noch ein Mittelpunkt dieses Ortes sind.
Aus gesundheitlichen Gründen muss sie 1980 leider Wohnung und Atelier am Ruckerlberg aufgeben und übersiedelt in eine Geschosswohnung im Ragnitztal, wo ihre zweite Nichte Elisabeth Härringer mit ihrer Familie wohnt. Hier steht jedoch nur noch ein reduziertes Atelier zu Verfügung, welches sie nur mehr für kleinere Arbeiten, und das eher selten, nutzen kann. Ihr Leben verlöscht am 12.08.1982 und sie findet ihre letzte Ruhestätte neben ihrer Mutter und ihrer Schwester am St.-Peter-Stadtfriedhof.
Zu ihrem hundertsten Geburtstag fand in der Grazer Galerie Leonhard eine kleine, und bisher letzte Retrospektive statt. Ihr nachgelassenes plastisches Werk wurde nach ihrem Tod im Museum der Stadt Bochum aufbewahrt und kam danach 2008 wieder nach Graz zurück. Wir selbst haben uns bemüht, die Lebenserinnerungen ihres Mannes Arnold Schück mit dem Titel Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes 2011 im Berliner Verlagshaus Deutsche Literaturgesellschaft herauszubringen, wo auch noch Vieles über Marys Leben insbesondere nach Kriegsende bis zu ihrer Flucht aus dem kommunistischen Osten über Österreich nach Hamburg berichtet wird.